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Die weise Frau aus der Zukunft

Brennball

Es ist herrlich, in ein neues Buch zu schreiben. Als Kind fand ich auch neue Hefte immer sehr einladend. Auf der ersten Seite habe ich mir dann besondere Mühe gegeben mit meiner Schrift. Ich habe immer auf die Handschriften der anderen Mädchen geschielt und mir überlegt, welche ich am liebsten hätte. Die ganz akkuraten, harmonischen, nach rechts geneigten gefielen mir am besten. Ging das Schriftbild stark nach links, so war die Schreiberin meist eine von den weniger Klugen, das stellte ich mir jedenfalls so vor.

Zu denen gehörte ich jedenfalls nicht. Auch nicht zu den Mädchen, die den Füller so fest aufs Papier drücken, dass er durchschreibt. Das waren die Fleißigen und ein derartig bearbeitetes Heft sah immer besonders nach Sorgfalt, Mühe und ernsthaftem Stirnrunzeln aus. Meine Hefte sahen ab der zweiten Seite dann unharmonisch aus- krakelig, als wären Hühner durch Tinte und dann übers Papier gelaufen. Aber manchmal konnte ich beim Schreiben die Spitze des Füllers ganz nah in mein Blickfeld holen, und der Anblick meines durchgedrückten Zeigefingers auf der eigens dafür vorgesehenen Stopperfläche des Pelikanfüllers erschien mir zutiefst vertraut- in Riesenvergrößerung sah ich, wie die kugelige Spitze des Füllers eine kobaltblaue Linie auf das groß strukturierte Nahpapier zog. Zeitlos und wunderbar. Ein Gefühl von Sicherheit und Möglichkeit! Nach jedem Wort wieder neu die Chance, wirklich schön zu schreiben. In jeder Linie das Schreiben selbst.

Es tut mir gut, zurückzugehen und noch einmal mit meinen Kinderaugen zu sehen. Bezeugen, was damals geschah. Wie eine Zeitreisende die Kleine besuchen und ihr sagen: Es ist o.k. Du schreibst sehr gut. Es wird immer ausreichen. Deine Handschrift ist Teil deiner Persönlichkeit. Du brauchst sie nicht anzupassen. Sie ist wunderschön - wild, schnell, schön chaotisch, ein bisschen ungelenk. Eines Tages wirst du Bücher schreiben, an einer ganz neuen technischen elektronischen Schreibmaschine sitzen und dann kommt eine Unterschrift ins Buch, vorne rein, damit die Leser sehen, dass Du auch eine Handschrift hast! Ja, so würde ich sprechen zu mir selbst. Eine Botschaft aus der Zukunft bringen, ein bisschen Vertrauen ins Leben!

Und dafür möchte ich wieder durch ihre Augen sehen! Die Dinge so neu und staunend sehen! Sie durchdringen. Meinen Geist wieder und wieder auf Null stellen und beobachten, was wirklich geschieht. Filter um Filter ablegen und der Welt ins Herz sehen.

Komm, ich zeige dir meine Welt! Das Kind kommt in die Zukunft, in meine Gegenwart und ich lass es durch meine Augen schauen: es freut sich.

Eine Matratze auf dem Boden als Bett! Das wünsche ich mir auch. Die Kinder der Nachbarn leben so - sie dürfen viel und die Mutter weiß nie, wo sie alle gerade sind! Eine Matratze auf dem Boden als Bett ist ein Bild für Freiheit.

Für dieses seltene kostbare Gefühl, allein, unbeobachtet, ohne Kontrolle zu sein und meinen eigenen Wegen und Gedanken zu folgen. Ich stelle mir vor, dass es kostbar ist. Dass eine Mutter, die erlaubt, dass man so schläft, so unordentlich und einfach, dass so eine Mutter Raum geben kann! Dass sie besseres zu tun hat, als jeden Schritt von mir zu überwachen. Wie herrlich ist doch dein Bett! Ein Bett der Freiheit!

Ich zeige jetzt dem Kind den Lattenrost, der unter der Matratze liegt. Es ist wichtig, dass Luft dorthin kommt. Ich bin froh, dass ich für dieses Problem eine so elegante Lösung gefunden habe - man sieht es überhaupt nicht. Und jetzt, Kind, kommt weiter, wir gehen runter. Es ist entzückt über die Hühnerleiter, die vom Schlafraum hinab führt. Das würde mein Vater nie erlauben. Und dann kommt der Hammer, die Überraschung - ich merke schon wie mein Herz wild klopft und ich mich freue auf das Gesicht der Kleinen wenn sie meinen Hund sieht!

Es ist ihr Traumhund! Sie packt ihn, steckt ihm ihre kleine Nase in sein Fell. Sie schnuppert. Sie strahlt. Und dann entdeckt sie die Bücher - ja ich habe Tausende von Büchern! Und schau, dort sind auch noch die ersten - die aus deinem alten Kinderzimmer: Nesthäkchen. Ich habe die Sammlung ergänzt - ich habe jetzt alle Bände hier stehen, komplett! Ich zeige ihr im Schrank meine Prinzessin - Kleider, eine verrückte Sammlung von Anziehsachen, die bunten Ketten, den Schmuck! Ich sage ihr, dass ich nur noch billigen Schmuck kaufe, weil es dann nicht schlimm ist, wenn ich ihn verliere! Ja ich habe gelernt, mit mir zu leben. Ich schimpfe nicht einmal mehr, wenn ich etwas verliere. Guck mal, Kleine - ich habe 25 Scheren gekauft und jetzt sind noch zwei davon da. So ist das Leben. Deswegen habe ich so viele gekauft - damit wenigstens zwei da sind, wenn ich sie brauche!

Und dann sitzen wir beiden in meinem schönen Hängestuhl. Ich erzähle dir, du kleines Kind, wie schwer es mir fällt, irgendetwas anzufangen. So wie jetzt – ich habe mal wieder gar keine Lust zum Aufschreiben. Ich werde schlaff und träge. Ich schimpfe mich selbst faul. Da erschreckst du, denn das kennst du! Als Kind war" Faulheit" einer der Hauptangriffspunkte die meine Eltern bedienten. Tatsächlich ist es schwierig für mich, in die Gänge zu kommen, anzufangen, konzentriert und effektiv etwas zu tun. Als ich klein war, gab es ein Gefühl, dass ich in einem total schweren Körper stecke, der sich nur sehr mühsam und mit viel Kraft, die ich nicht habe, bewegen lässt.

Meine Gedanken, die flattern wie kleine aufgescheuchte Vögel, wie Insekten, schnell, zart und flüchtig, empfand ich als die eigentliche Substanz, als den Motor, der zu schwach ist, diese schwere träge Masse" Körper" zu bewegen, zu beherrschen. Ich erinnere mich nicht an Impulse, los zu hüpfen oder zu rennen. Wenn ich solche körperlichen Äußerungen bei anderen wahrnahm, hat es mich erschreckt, es war mir zu stark, bedrohlich, ich fühlte mich überwältigt! In der Siedlung, in der meine Spielfreundin wohnte, gab es eine ganze Horde Kinder, die täglich das Spiel" Ball weg schlagen" spielten - ein in meinen Augen unglaublich dämliches, fürchterliches Spektakel. Ich hab mich davon ferngehalten - auf Schleichwegen, hinter der Alten Mühle durch den verfallenen Apfelgarten, habe ich mich an die Siedlung angepirscht. Wenn ich die Kinder dort sah, rennend, schreiend, einen Ball tretend, sich versteckend--dann bin ich wieder nach Hause gegangen.

Es war nicht zu verstehen, warum sie solchen Spaß daran hatten, für mich fühlte es sich eher lebensbedrohlich an. Einmal habe ich im Sportunterricht ein Erlebnis gehabt, das mir durch und durch gegangen ist, ich habe gezittert bis in die Knochen und bin in Tränen ausgebrochen. Es geschah bei dem Spiel "Brennball". Zwei Mannschaften - schon die Wahlen waren für mich eine Qual, diesen genervten Gesichtsausdruck des Kindes zu sehen, in dessen Mannschaft ich dann zuletzt "musste". Eine wirft den Ball in das " Feld", wo die andere Mannschaft verteilt ist und der erste Ballwerfer rennt los, rund um das Feld. Wenn es ihm gelingt, ganz herum zu kommen, bevor die anderen den Ball fingen und dann an einer bestimmten Stelle auf die Erde getippt haben, hat seine Mannschaft einen Punkt. Auf dem Weg rund um gibt es ein paar "Inseln“, Hulahopp - Reifen, in denen man sicher ist und dann bei der nächsten Runde mitlaufen kann. Wenn dann der Läufer noch rennt und der Ball aufgetippt wird, schreien alle aus Leibeskräften: "verbrannt!" Dann scheidet derjenige aus.

Deshalb heißt dieses Spiel Brennball. Mich gruselte es schon in der Umkleidekabine - ich habe heute noch Mühe, ruhig durch zu atmen, wenn ich mal einen Umkleideraum betreten muss- dieser Geruch wirkt auf mich wie einen Fausthieb in mein Zwerchfell. Es riecht nach Gewalt, Härte und Angst. Als phantasiebegabter Mensch sah ich beim Brennball die gegnerischen Mannschaften zu Feinden heranwachsen –schon die Aufstellung auf dem Spielfeld färbte meine Innenwelt in finstere Schlachtfelder um, deren Pulverrauch scharf in die Nase steigt und Menschen liegen tot in ihrem Blut, mit schwarz verbrannten Fleisch. Ich sah sterbende Kinder mit weit aufgerissenem roten Augen und brennenden Haaren.

Ich hatte mich ja schon sehr früh mit der Frage beschäftigt, ob es „das Böse“ gibt. Ob, wenn ja, Gott selbst es geschaffen hat und es auch beherrscht- dann hätte Gott es im Griff gehabt, aber würde es dennoch so laufen lassen - eine Panik auslösende Vorstellung! Oder ob der Teufel, eine von ihm unabhängige Gegenkraft, dieses Böse erschaffen hat, dann wäre es so, dass der liebe Gott diese Gegenkraft nicht im Griff hat.

Ich fand das eine so schlimm wie das andere. Zur Sicherheit hatte ich mir vorgestellt, dass der Teufel als Inbegriff des Bösen, und auch Gott als Inbegriff des Guten und auch eventuell des Bösen, irgendwie Cousins sind und eine sehr weise Großmutter haben. Diese Frau schien mir im allabendlichen Pantheon die vertrauenswürdigste zu sein. Sie war jedoch so geheim, dass ich meine lauten Gebete nicht an sie richten konnte und die lauten waren nun einmal die wirksamen, die echten, und alles Stumme, Stille, eine einsame Lüge, die den lieben Gott traurig macht.

Bei diesem Brennballspiel konnte ich "das Böse" im ganzen Körper spüren. Böse ist, wenn Kinder um ihr Leben rennen müssen, und wenn sie es nicht schaffen werden, wenn sie verbrannt werden. Es ist grauenhaft, zu verbrennen! Es muss sehr sehr weh tun und es dauert lange. Es sieht auch furchtbar aus. Die Haut platzt auf, die Wundränder werden schwarz und es stinkt. Das Böse tobte als Angst durch meinen Körper, ich atmete kaum noch, und mein ohnehin so schwer in Bewegung zu setzender Körper gefror von innen her zu einer harten Masse, schwer wie Eisen. Dann war ich an der Reihe. Ich blickte in die hasserfüllten Gesichter der Gegner, die nur darauf warteten, mich brennen zu sehen.

Kann man so etwas wollen? Es war nicht zu verstehen. Hinter mir spürte ich die eisige Ablehnung der Mannschaft, die mich nehmen musste -Verärgerung um diesen verlorenen Punkt, von vornherein schon hoffnungslos. Schon wie ich den Ball werfe! Mein Vater sagte mal scherzhaft: Du triffst ja auf 2 m keinen Möbelwagen! Beim Brennball traf ich mit Sicherheit denjenigen, der direkt an der gefährlichen Auftippstelle wartete und sich den Ball sofort locker schnappen konnte. Ich war noch nicht mal los gerannt. Ich war fest gefroren. Der nächste wirft, ich renne mit los. Erreiche die erste Insel. Und um mich ein Flammenmeer, ein grausames Wabern, das Züngeln des Bösen. Es war da. Es war in jedem Kind dort, es war in der Lehrerin, die das alles angezettelt hatte, in dem Feld, wo Feinde gemacht wurden und Hass, Mordlust. Freude an der Qual, die andere beim Verbrennen erleiden, wo all dieses zum Klassenziel wurde, zur Wahrheit! Wieder Ball im Feld , ich lief los und lief und lief, nur weg hier, alles war mir egal, ich konnte es nicht mehr ertragen, nicht einen Augenblick länger wollte ich den Lauernden, mit Macht Beschenkten ausgesetzt sein. Mitten im Lauf der Schrei! Aus 36 Kehlen, lauthals kreischend, nachhallend in einem Raum ewiger Hölle, ewigen Todes, wie ein Strudel in den ich fiel:" Verbrannt!!!" Es begann in meinen Knochen. Sie verdichteten sich, wurden spröde, härter, Eiszapfen, die singend klirrend brechen. Noch ein kurzer Bildersturm, mein verbranntes Fleisch, Rippchen auf dem Grill, dann fiel ich um. Fiel in ein tiefes Schluchzen hinein. Ein Weinen in mir, dass die eisigen Knochen schmelzen würde und ich schluckte es gewaltsam runter. Saß auf der Bank und schluckte und schluckte und rang mit aller Kraft. Vergeblich. Jemand hatte etwas gesehen." Die Heult! Jetzt heult sie auch noch!"

Es ist schwer zu beschreiben wie fremd ich mich fühlte. Es ist gut zu wissen, dass ich nun die weise Frau aus der Zukunft bin.

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